Ach, hallo! Wo seid ihr denn her?“, trällerte uns die illustre Seniorengruppe aus North Carolina entgegen, als wir den auf alt getrimmten Trolley-Bus in Winnipeg bestiegen. Ihre Verwunderung darüber, dass wir aus Deutschland kommen, spürten wir sofort. Neben Vancouver und den benachbarten Nationalparks im Westen sowie dem kulturellen Schmelztiegel Toronto und Quebec im Osten Kanadas, ist die goldene Mitte Manitoba nicht die erste Anlaufstelle für Besucher aus Übersee. Schon beim Anflug wurde deutlich, warum es Prärieprovinz genannt wird. Die Gegend ist flach. Farmland bestimmt im Süden das Landschaftsbild. Weiter im Norden wird die Natur wilder: Flüsse, Seen, Felsen und Nadelwälder wechseln sich ab. Und wer es durch die Tundra bis ganz in den Norden Manitobas schafft, den erwartet Churchill, die Welthauptstadt der Polarbären.
Zum Start eine Trolley Tour
Die Hauptstadt von Manitoba ist Winnipeg, eine Stadt in der sich moderne Architektur mit Schnörkeln und verwaschenen Werbeschildern vergangener Zeiten abwechselt. Für einen ersten Überblick empfiehlt sich eine Trolley Tour. Als sich unser Trolley zur Stadttour in Bewegung setzte, spiegelte sich die Sonne in den Hochglanzfassaden Downtowns. Nur wenige Straßenzüge weiter schien sie in die Vorgärten bunter Holzhäuschen hinein. Winnipeg ist eine sehr grüne Stadt. Im 19. Jahrhundert gab es sogar eine „grüne“ Polizei, die damit beauftragt wurde, darauf zu achten, dass keine Grünflächen zerstört werden. Zwischen dem Grün fließen vier Flüsse durch Winnipeg. Wenn sie im Winter gefroren sind, fahren die Menschen auf Schlittschuhen zur Arbeit.
Starke Frauen von Kanada
In einer Straße mit bunten Holzhäusern hielt der Trolley vor einem schmalen gelben Haus mit grünen Fenstern. Hier lebte einst Nellie McLung, eine Frauenrechtlerin mit einem ordentlichen Dickkopf. Ihre Reden waren stets mit viel schwarzem Humor gespickt. Mit ihrem Wortwitz und ihrer Hartnäckigkeit erreichte Nellie, dass Manitoba neben Alberta im Jahr 1916 die ersten Bundesländer Kanadas waren, in denen Frauen wählen durften.
Eine weitere Dame, die sich mit ihrer Leidenschaft in Winnipeg verewigen konnte, ist die Künstlerin Kal Barteski. In einer kleinen Gasse, in der die Veranden reich bepflanzt und mit Wimpel- und Lichterketten dekoriert sind, malte sie sich als großer Polarbär-Fan eines Tages einen Eisbären an ihr Garagentor. Den Nachbarn gefiel das so gut, dass sie fragten, ob Kal auch ihre Türen bemalen würde. „Gerne, solange es sich um arktische Motive handelt, sonst kostet es 10.000 Kanadische Dollar“, antwortete die Künstlerin im Scherz. Dennoch entschieden sich die Nachbarn sicherheitshalber für Polarfüchse, Eisbären und Robben und aus der Gasse wurde die Back Alley Arctic.
The Forks – Dreh- und Angelpunkt von Winnipeg
Ihren Namen hat die historische Stätte von der Flussgabelung des Red und des Assiniboine Rivers, an der sie liegt. Schon vor 6.000 Jahren haben sich die Ureinwohner Kanadas hier versammelt, Feste gefeiert und Waren gehandelt. Als während der Kolonialisierung Händler aus Europa, Büffel-Jäger, Schottische Siedler, Bahn-Pioniere und tausende Migranten nach Winnipeg kamen, verlor The Forks an Bedeutung und das Gelände lag irgendwann brach. Mittlerweile wurde der Ort wieder zum Leben erweckt und die Menschen kommen, um mit dem Boot-Taxi eine kleine Rundfahrt auf dem Fluss zu machen, in dem Skate-Park Kunststücke vorzuführen, auf der Terrasse ein Bier zu trinken (übrigens die einzige öffentliche Terrasse in Kanada, auf der Alkohol getrunken werden darf) oder um sich auf dem Market at The Forks den Bauch vollzuschlagen. In der großen backsteinernen Halle gibt es einen Food Markt mit Essen aus aller Welt.
Ganz in der Nähe von The Forks steht das Kanadische Museum für Menschenrechte, ein Museum das ganz bestimmt niemanden kalt lässt. Im Inneren finden sich bewegende Geschichten rund um das Thema Menschenrechte. Es wird an schreckliche Genozide erinnert, aber auch von heldenhaften Taten mutiger Menschen erzählt, die sich weltweit für Menschenrechte eingesetzt haben. Neben den mitreißenden Geschichten fasziniert die Architektur des Museums. Der außergewöhnliche Bau mit einem Mix aus sandsteinfarbenen Backsteinen und Glas birgt im Inneren modernstes Design.
Die verschiedenen Ären wurden unterschiedlich gestaltet. Mal fühlt es sich an, als sähe man durch Gefängnisgitter und plötzlich findet man sich in einem riesengroßen futuristischen Monitorraum wieder. Treppen aus dickem beleuchtetem Alabaster und schwarzem Beton führen von einer Galerie in die nächste, sodass das Museum mit seinen wichtigen Botschaften nicht nur für das Hirn, sondern auch die Augen anregend wirkt.
Die geheimen Botschaften von „The Leg“
Es klingt sonderbar, aber nach den haarsträubenden Geschichten im Museum für Menschenrechte warten im Gerichtsgebäude von Winnipeg weitere Gänsehautschübe auf Besucher. The Leg nennen die Einwohner Winnipegs ihr Legislative Building. Es mag zunächst verwundern, wie ein Gebäude mit einem eher verstaubten Image zu einem Spitznamen kommt, aber The Leg birgt so einige Geheimnisse.
Seine Mappe unter den Arm geklemmt, mit weißen wehenden Haaren empfängt uns der Leg-Tourguide am Brunnen vor dem Gerichtsgebäude. Er erinnert an eine ältere, schmalere Version von James Brolin, dem Moderator der Serie „X Faktor – Das Unfassbare“ aus den 90ern. In seinen Augen funkelt die Freude, uns gleich in die geheimnisvolle Welt der Freimaurer mitzunehmen. Normalerweise leitet Dr. Frank Albo die Touren, doch er war an diesem Tag verhindert. Frank Albo, der auch der Dan Brown von Kanada genannt wird, fuhr eines Tages am Leg vorbei und wunderte sich über zwei ägyptische Sphinx Figuren unterhalb der Kuppel. Aus anfänglicher Verwunderung wurde eine investigative Leidenschaft und Albo begann, das Gebäude nach geheimen Botschaften zu durchsuchen:
„Es ist wie ein architektonisches Sudoku Puzzle.“ Der neoklassizistische Bau wurde im Jahre 1920 von den Architekten Frank Worthington Simon, Henry Boddington III und weiteren Freimaurern fertiggestellt. Vorbei an zwei riesigen Bisons, die den Aufgang zur Treppe im Foyer bewachen wie gehörnte Bullen antike Tempel, steigen wir eine Treppe mit drei Treppenabsätzen und jeweils 13 Stufen hinauf. Die Halle ist von 13 Torbögen umgeben. Es hängen 13 Lampen entlang der Gänge und die Bisons sind 13 Fuß lang. Auch die Nummer 666 erscheint immer wieder, so ist der Hauptsaal des Gebäudes 66,6 Fuß lang und 66,6 Fuß breit. Es folgen viele weitere Details, die einem teilweise die Haare zu Berge stehen lassen. Definitiv eine Tour, die sich Winnipeg-Besuchende nicht entgehen lassen sollten.
Eine weniger verschworene, aber dennoch geschichtsträchtige Nachbarschaft ist der Exchange District. Ungefähr 150 historische Gebäude stehen in diesem urbanen Viertel. An vielen der alten Backsteinfassaden befinden sich alte, verwaschene Werbemalereien. Sie werden Ghost Signs genannt. Im Kontrast dazu stehen die vielen bunten, in kräftigen Farben an die Industriehallenwände gemalten Street Art Kunstwerke. Im Exchange District tummeln sich viele junge Entrepreneurs. Es gibt hier viele hippe Cafés, Ramen Restaurants und Kunstgalerien.
Churchill ist die Welthauptstadt der Eisbären
Einen weiteren besonderen Ort gibt es im Zoo von Winnipeg: die Journey to Churchill. Das Projekt widmet sich dem Schutz der arktischen Region im Norden Manitobas. Churchill liegt am nördlichsten Punkt Manitobas und ist als die Welthauptstadt der Eisbären bekannt. Zur Einstimmung wird Besuchenden ein Film auf einer 360 Grad Leinwand gezeigt. Plötzlich befindet man sich inmitten der Natur Manitobas und sieht, wie eine alte weise Ureinwohnerin mit ihrer Enkelin am Lagerfeuer sitzt. Mit ihrer warmen, kratzigen Stimme erzählt sie von dem Manitoba, in dem sie aufgewachsen ist: endlose Wälder, unzählige Seen und unberührte Natur. Die Bilder sind wunderschön. Doch plötzlich erscheinen andere Szenen auf der Leinwand: vom Industriestaub verdreckte Eisbären wühlen sich durch die Mülltonnen der Häuser am Stadtrand von Churchill.
Im arktischen Winter leben die Eisbären auf dem Packeis, von wo aus sie Robben jagen. Sie fressen sich große Fettreserven an. Das Eis schmilzt aber immer schneller und viele Eisbären stranden so auf dem Festland, wo sie nur selten Futter finden. Die Ureinwohnerin erklärt, dass der dramatische Rückgang des Eises bedeutet, dass die Bären ihre Nahrungsgrundlage verlieren und nicht in ihre Jagdreviere zurückkehren können. Es liegt nun an uns Menschen, auf die Natur zu achten und zu versuchen, sie wieder in Einklang mit der Tierwelt zu bringen. Eine wichtige Institution sind die Forschungslabore des Leatherdale International Polar Bear Conservation Centre (LIPBCC). Die Mitarbeitenden erforschen das Leben der Polarbären weltweit, insbesondere zum Arten- und Umweltschutz. Dazu gehört auch die Rettungsstation im Zoo von Winnipeg, die Polarbären-Kinder aufnimmt, welche keine Überlebenschance in der Wildnis hätten. Wenn einem Polarbär-Waisen der Tod droht, entscheidet das Manitoba Sustainable Development, die Abteilung der Regierung, die sich um den Schutz der Wildbestände kümmert, unter strengen Regularien, ob der Bär gerettet und somit in den Zoo gebracht werden darf. Sie können auf einem weitläufigen Gehege Felsen empor klettern oder eine Runde schwimmen gehen. Wenn sie schwimmen, wird es für die Zuschauenden besonders spannend: Von einem Unterwassertunnel aus können sie den weißen Riesen beim Planschen zusehen.
Natur pur vor den Toren der Stadt
So viel Abwechslung wie Winnipeg auch zu bieten hat – ein Aufenthalt in Kanada ohne die Weiten der Natur zu erleben, wäre ein Fauxpas. Manitoba wird das Land der 100.000 Seen genannt. Vor den Toren der Stadt warten tausende Hektar Wildnis, Seen, Flüsse und Wälder, in denen etliche Wanderwege und Hunderte von Kilometern an Kanurouten auf Naturfreunde warten. Für Besuchende, die eine Kombination aus Citytrip und Outdoor-Urlaub machen möchten, empfiehlt sich eine geführte Wildnis-Tour! Zum einen kennen die Guides die schönsten Orte und zum anderen wird das Equipment durch den Touranbieter gestellt. So warteten wir früh morgens vor unserem Hotel mit einem kleinen Rucksack, in dem wir nur das nötigste für eine Nacht in der Wildnis verstaut hatten. Um Zelte, Schlafsack und Proviant kümmerte sich das Team. Wir kletterten in den Van, auf dessen Anhänger sich die Kanus türmten. Unser Guide Liam steuerte den vollgepackten Van gen Norden. Nach ungefähr anderthalb Stunden verließen wir die Hauptstraße, um stundenlang auf Schotterpisten entlang zu rattern. Alles schüttelte und klapperte. Der Schatten eines Bärenkindes verschwand zwischen den dichten Sträuchern am Straßenrand. „Hier sehen wir sie immer“, sagte Liam. „Die sind hier überall, die Bären.“ Wir stellten uns auf ein großes Abenteuer ein.
Portages: Das Kanu muss getragen werden
Durch dichten Birken- und Fichtenwald schimmerte immer wieder das dunkle Wasser der Seen. Nach knapp drei Stunden lenkte Liam den Van auf einen Parkplatz. Wir brachten die Kanus ans Ufer, wo Liam uns zunächst eine Sicherheitseinweisung gab. Ein Wort benutzt er immer wieder: „portage“. „Wenn wir portagen, trag’ nicht mehr als für dich angenehm ist.“ Jetzt wird mir erst bewusst, was uns bevorsteht: Das Land der 100.000 Seen bedeutet auch, dass zwischen den Seen Landzungen sind, über die wir unser Gepäck und die Kanus tragen müssen – die sogenannten Portages. Kurz darauf ging es los: Mit regelmäßigen Paddelschlägen glitten wir durch das Wasser. Der See lag ganz friedlich und umschlossen von dichten Nadelwäldern. Ab und zu paddelten wir an einer Insel vorbei. Liam wies uns den Weg zu unserer ersten Portage.
Wir legen an, entluden unser Gepäck und schleppten es dann einen schmalen Feldweg und über Felsen entlang zur anderen Seite. Es folgten noch zwei weitere Portages, bis Liam auf eine Insel zeigte, auf der wir unser Lager aufstellen wollten. „Falls da schon Leute sind, suchen wir uns einfach eine andere.“ Leute hatte ich schon lange nicht mehr gesehen. Um uns herum war nur wunderschöne Natur und die nächste Stadt lag 350 Kilometer weit entfernt. Wir kaperten die herrenlose Insel und während Liam das Gepäck sortierte, erkundeten wir unser kleines Eiland. Es war perfekt: ein kleiner Strand, felsige Hügel, eine Feuerstelle und sogar eine Biotoilette mit Panoramablick in die Natur. Große Bäume und Sträucher boten Schutz vor Wind und Regen. Hier bauten wir unsere Zelte auf. Während Liam eine Kanne Kaffee auf dem offenen Feuer kochte, suchten wir uns alle einen Platz von dem aus wir abwechselnd auf unser Buch oder einfach nur in die wahnsinnig schöne Umgebung schauen konnten. Wir lauschten dem knisternden Feuer, dem leisen Wind in den Schwarzfichten und Strauchkiefern, dem Singen der Vögel.
Traumhafte Sonnenuntergänge machen alles wieder gut
Liam suchte derweil Feuerholz, um das Abendessen zuzubereiten. Er zauberte uns ein Butter Chicken Curry mit Reis, welches wir auf den Felsen sitzend verputzen, während wir der Sonne beim Untergehen zusahen. Als ich am nächsten Morgen aus dem Zelt kletterte, roch es schon nach Kaffee und Liam bereitete gerade Pancakes mit Bacon über dem offenen Feuer zu. Nach dem Frühstück hüpften wir in die Kanus, um auf Erkundungstour zu gehen. Gerade als wir mitten auf dem riesengroßen See waren, setzte ein Regenschauer ein. Es schüttete wie aus Kübeln, aber es war zum Glück nicht kalt. Schwere Regentropfen klatschten direkt neben uns auf die Wasseroberfläche des Sees. Zurück auf der Insel, traute sich am Abend die Sonne wieder heraus und bereitete uns einen unvergesslich schönen Sonnenuntergang.
Diese weite Natur und diese unendliche Ruhe in der unberührten Natur schienen tatsächlich einen Camper aus mir gemacht zu haben. Zumindest, wenn ich einen Liam dabei habe.
Evelyn Narciso