Im dicht besiedelten Sรผdchina werden Stรคdte mit unter 100.000 Einwohnern als Dorf bezeichnet. Es gibt einige Metropolen mit fรผnf bis 13 Millionen Menschen: Yangzhou, Nanjing, Changzhou, Suzhouโฆ um nur ein paar zu nennen, die in Europa zu den grรถรten zรคhlen wรผrden. Manche Bewohner der Metropole Shanghai nennen sogar Peking mit seinen fast 22 Millionen Einwohnern ein „Dorf“ โ etwas abschรคtzig und mit einem Augenzwinkern natรผrlich, denn obwohl Peking die Hauptstadt ist, liegt es in Nordchina. Shanghai und der Sรผden gelten als fortschrittlicher, westlicher, europรคischer. Shanghai ist mit seinen fast 30 Millionen Bรผrgerinnen und Bรผrgern die drittgrรถรte Stadt der Welt nach Delhi und Tokio. Wir machen uns auf in diese faszinierende Metropole in genieรen auch eine Peking-Ente in Shanghai.
Kein Durchkommen mit dem Auto
Soweit zu den Grรถรenverhรคltnissen, die sich in monumentalen und blitzeblanken Wolkenkratzern sowie fรผnfspurigen Straรen รคuรern. Ein Arbeitsweg von zwei Stunden ist normal in Shanghai. Mit dem Auto ist oftmals kein Durchkommen mehr von den Auรenbezirken bis in die Innenstadt. Zudem kรถnnen sich viele kein Auto leisten beziehungsweise erhalten keine Genehmigung. Die Straรen sind videoรผberwacht, jedes Auto wird gescannt. Wenn es zu voll ist, werden Straรen oder ganze Blocks gesperrt. Die Regierung will Stau und Smog vermeiden. Letzterer hat sich dank E-Mobilitรคt in Shanghai massiv vermindert.
Die tรคglichen Herausforderungen des Stadtlebens
Viele nehmen die langen Wege mit Humor: „Wir fahren jeden Tag mit BMW zur Arbeit“, so ein gรคngiger Witz โ „BMW“ steht fรผr Bus-Metro-Walk. Wohnungen im Zentrum sind so gut wie unbezahlbar. Viele alte Gebรคude werden abgerissen, um Platz fรผr noch mehr Hochhรคuser zu schaffen, Bรผros sowie Wohnungen. Geschรคftiges Treiben in der Hitze, rennende Kinder, hupende Mopeds, schreiende Kleinverkรคufer, ein Autounfall, der dann doch zu Stau fรผhrt. Keine 300 Meter weiter, in einem von Hochhรคusern umsรคumten Park, steht Huang Lixiong still im Schatten der Bambusbรคume. Er atmet tief ein, stรถรt mit den Hรคnden nach vorne, als wรผrde er die Luft wegdrรผcken, atmet aus. Der Groรmeister des Taijiquan, einer der รคltesten Formen des Tai-Chi, wiederholt die รbung, seine Schรผlerinnen und Schรผler machen es ihm nach. Es ist ruhig, man hรถrt die Gruppe unisono ausatmen, etwas Wind durch den Bambus drรผcken.
Schattenboxen als Ausgleich zum Groรstadtleben
„Schattenboxen“, ist, wie so viele Kampfkรผnste, ein Ausgleichssport fรผr Groรstรคdter geworden. Es geht nicht mehr ums Verteidigen, Verletzten oder Gewinnen, sondern um Entspannung, Loslassen und Energiegewinnung. Eine Art Yoga, Bewegungslehre, Gymnastik. Die zahlreichen Rentner im Park positionieren sich und ziehen ihre linken Arme langsam und angespannt nach oben. 83 รbungen machen sie innerhalb einer Stunde.
Huang Lixiong ist seit seiner Kindheit begeisterter Schรผler der Kampfkรผnste, besitzt den sechsten Dan. Vermutlich kรถnnte er einen jeden hier mit einfachen Handgriffen zu Boden strecken. Stattdessen erlรคutert er Atemtechniken, die zu innerer Ruhe fรผhren sollen. Je grรถรer die Stadt, umso wichtiger die innere Ausgeglichenheit. Ying und Yang. „Weiche Bewegungen schaffen etwas Hartes, um etwas Schweres zu bewegen und zu besiegen“, erklรคrt der Groรmeister philosophisch. Am Ende verneigt er sich, so langsam und bedรคchtig, dass wir die Stadt um uns vergessen.
Die Stadt der Superlative: Shanghai von oben
Doch jรคh ist sie wieder da, die Stadt der Superlative: Es geht hoch hinaus auf den Shanghai-Tower, der bei Errichtung im Jahre 2013 mit 632 Metern auf 128 Etagen das hรถchste Gebรคude der Welt war. Unterdessen wurden mit dem Burj Khalifa in Dubai (828 Meter) und dem Merdeka 118 in Kuala Lumpur (679 Meter) hรถhere Gebรคude errichtet. Trotzdem lรคsst sich in Shanghai damit das dritthรถchste Bier der Welt in einem Gebรคude trinken und dabei die atemberaubende Skyline von oben betrachten. Zum Beispiel der Shanghai World Financial Center, der wie ein Flaschenรถffner aussieht. Oder der Oriental Pearl Tower aus dem Jahre 1991, ein Fernsehturm, der dem in Berlin รคhnelt, allerdings genau 100 Meter hรถher ist und gleich zwei Kugeln hat.
Kunst und Design in Tianzifang
Bei so viel Hรถhe braucht es wieder Ausgleich. Am Nachmittag fahren wir ins Kรผnstlerviertel Tianzifang, ehemalige franzรถsische Konzession, und flanieren durch die engen Gassen voll mit Designern, Galerien, Boutiquen und Imbissen. Kรผnstler verkaufen Plastikkaninchen in allen mรถglichen grellen Farben, genauso bunt wie der Bubble Tea zwei Meter weiter oder das „Second Hand“-Geschรคft mit Mode aus einem Europa der 60er-Jahre, allerdings nachgemacht. Schnell verliert man hier die Orientierung.
Der Tee als Kunstwerk
Anschlieรend wird Tee serviert. Grace Hu ist seit dreiรig Jahren Designerin in Shanghai und hat 2023 „Qushui Space“ erรถffnet, eine Mischung aus Kunstraum und Teeladen. Auf Miniaturbooten, die auf einer schmalen Wasserstraรe durch den Raum schippern, wird grรผner und schwarzer Tee serviert, jede Sorte von Kรผnstlerinnen und Kรผnstlern „designt“. Wasser symbolisiere in China Geld, sagt Grace Hu. Das flieรende Wasser bedeute, es sei alles in Ordnung, der Fluss des Geldes funktioniere. Und das sei beruhigend.
Teekunst trifft Tradition
Zu jedem Tee wird eine Geschichte รผber seine Herkunft erzรคhlt. Die Szene der „Tee-Kรผnstler“ ist groร, sie formen fermentierte Blรคtter zu Kunstwerken. Viel Arbeit, nur, um die Werke dann mit heiรem Wasser aufzugieรen und zu trinken. Aber so ist er, der Fluss des Geldes, er steht niemals still. Die Werke kรถnnen in kleinen Glรคsern gekauft werden.
Das Teetrinkritual „Qu Shui Gob“ verbindet moderne Lifestyle-รsthetik und traditionelle Kultur. Frรผher haben die Philosophen am Fluss gesessen und sich kleine Boote mit Tee oder Wein zugeschickt. Diese Tradition ahmt Grace Hu nach. Auf ihren Schiffchen sind kleine Figรผrchen angebracht: chinesische Persรถnlichkeiten, Maler, Kรผnstler, Philosophen.
Auรerdem zeigt Grace Hu ihre Einzelausstellung „Empty Mountain, Wishing for Rain“ mit traditioneller Tusche. „Shanghai ist eine groรartige Stadt fรผr Kรผnstler“, sagt sie und lรคchelt. Als Designerin macht sie vor allem Schmuck, hat einen riesigen Showroom und exportiert in viele Lรคnder. Vor ihrem Teekunstgeschรคft steht ein Baum aus Plastik โ auch das eine Anspielung auf die Traditionen. Denn, so erzรคhlt Grace Hu, sprechen viele Chinesinnen und Chinesen mit Bรคumen beziehungsweise klagen ihr Leid in Baumlรถcher. Das soll dafรผr sorgen, dass die Sorgen verschwinden. In Hus Plastikbaum sind Bildschirme installiert, die Szenen aus alten asiatischen Filmen in Dauerschleife abspielen. Moderne Kunst eben.
Peking-Ente in Shanghai: Eine kulinarische Kunst
Eine groรe Kunst in China ist das Essen. Moderne Peking-Ente gibt es natรผrlich auch in Shanghai. Auf einem runden, sich drehenden Glastisch werden zunรคchst allerlei Vorspeisen serviert. Mit Stรคbchen schnappt man sich etwas herunter auf den eigenen Teller. Die Tischordnung: die Stรคbchen, die nรคher am Teller liegen, nimmt man zum Essen. Mit den anderen, meist dunkleren, holt man sich etwas vom Drehtisch.
Dann wird die gold glรคnzende Ente gebracht. Der Koch tranchiert sie, als sei es etwas Heiliges. Es ist vollkommen anders als Peking-Ente in Deutschland: Kleine Stรผcke mit zartem Fleisch und die marinierte Haut, knusprig sรผร wie Zuckerwรผrfel, werden zusammen mit schmalen Scheiben Sellerie, Karotte oder anderem Gemรผse in eine Hoisin-Sauce sowie Malzzucker getunkt (mit Stรคbchen) und in hauchdรผnne Pfannkuchen gelegt, zusammengerollt und verzehrt (mit den Hรคnden). Diese Prozedur wird mehrfach wiederholt. Reis spielt in der gehobenen chinesischen Kรผche so gut wie keine Rolle mehr und wird lediglich auf Anfrage serviert.
Mehr Informationen รผber die kulinarische Szene Shanghais.
Ein Ausflug ins Venedig Chinas
Genug Moderne, Kunst und Groรstadt. Am nรคchsten Tag geht es in die Wasserstadt Wuzhen, 120 Kilometer vom Zentrum Shanghais entfernt. Das Venedig Chinas bietet Kanรคle mit Hรคusern an beiden Seiten, steinerne Bogenbrรผcken und Ruderboote aus einer รผber 6.000-jรคhrigen Geschichte. Seit Anfang der 1990er-Jahre werden die historischen Gebรคude restauriert. Mit gerade mal 84.000 Einwohnerinnen und Einwohnern wird Wuzhen natรผrlich als Dorf bezeichnet. In den Hinterhรถfen der Holzhรคuser finden sich zwischen den engen Gassen einige Attraktionen wie eine Reisschnaps-Brennerei, ein Seidenhandel, ein Bettenmuseum oder eine Weberei, in der Mitarbeiterinnen das traditionelle Handwerk prรคsentieren.
An einem Hafen hรคngt ein Mann an einer langen Bambusstange, die sich รผber das Wasser biegt. Er hรคlt sich nur mit dem Hals fest, breitet die Arme aus, hรคlt inne, schwingt sich dann wieder herum und vollfรผhrt tollkรผhne Akrobatik. Die zahlreichen Touristinnen und Touristen starren nach oben und applaudieren. Nicht die einzige Show, die hier tรคglich geboten wird. Kung Fu auf Schiffen gehรถrt zum Abendprogramm. Wenn die Sonne untergeht, gehen in Wuzhen die Flaschen auf. Zahlreiche Restaurants und Bars laden zum Verweilen am Fluss ein, es wird ruhig, das Wasser still, das Licht gedimmt. Hier und da dringt Lachen aus einer Karaokebar.
Anmerkung der Redaktion:ย Diese Reise wurde unterstรผtzt von Gebeco Reisen. Unsere Berichterstattung ist uns in ihrer Unabhรคngigkeit und Neutralitรคt besonders wichtig. Die Meinungen, Eindrรผcke und Erfahrungen der Autoren spiegeln ihre persรถnlichen Ansichten wider.